Erfolg oder Tabubruch? EU-Gipfel beschließt gemeinsame Schulden

Die Medien berichten von einem Erfolg, aber der EU-Gipfel war ein Kompromiss, der (fast) nur Verlierer kennt. In der Politik werden solche Kompromisse jedoch als Erfolge verkauft. Warum es meiner Meinung nach fast nur Verlierer gibt, will ich hier aufzeigen.

Bei dem EU-Gipfel ging es um den EU-Haushalt der nächsten sieben Jahre, aber vor allem ging es um gemeinsame Schulden der EU-Staaten zur Bewältigung der wirtschaftlichen Corona-Folgen. Und es ging um Strafen gegen die Länder, denen Brüssel Verstöße gegen demokratische Regeln und Rechtsstaatlichkeit vorwirft. Erreicht wurde von all dem fast nichts.

Corona-Folgen

Der Corona-Lockdown hat der Wirtschaft ganz bewusst schweren Schaden zugefügt, nun geht es um die Folgen. Deutschland hat alleine einen Nachtragshaushalt beschlossen, der eine Neuverschuldung von über 200 Milliarden vorsieht. Und trotzdem ist allen klar, dass auch dieser Nachtragshaushalt die drohende Pleitewelle kaum aufhalten kann.

Für die gesamte EU wurde nun ein Paket von 750 Milliarden beschlossen, dass auf 27 Länder aufgeteilt wird. Schon die Zahlen zeigen, dass das Geld kaum ausreicht, um Ländern wie Italien, die ungleich schwerer betroffen sind, als Deutschland, ernsthaft zu helfen.

Italien und andere Länder haben gefordert, dafür gemeinsame Schulden aufzunehmen und die Gelder nicht als Kredite, sondern als Hilfen zu vergeben.

Das war in vielen Ländern unpopulär, auch in Deutschland. Zur Erinnerung: In den Masstrichtverträgen – so wurde es uns bei der Euro-Einführung versprochen – wurde angeblich festgelegt, dass Deutschland nicht für die Schulden anderer Länder haften würde. Bei der Griechenlandkrise war das noch ein Mantra der Politik, nun bei Corona galt das nicht mehr und Merkel hat sich auf die Seite derer geschlagen, die für gemeinsame Schulden waren. Wie Medien und Politik den Deutschen damals Sand in die Augen gestreut haben, habe ich im Mai aufgezeigt.

Der Linie sind die deutschen Medien und die Politik treu geblieben. Das Wort „Corona-Bonds“ wird vermieden, von „gemeinsamen Schulden“ kann man kein Wort lesen. Dass es aber genau darum geht, versteht nur, wer zwischen den Zeilen lesen kann. Der deutsche Michel soll möglichst nicht bemerken, was da ausgehandelt worden ist. Stattdessen ist die Rede vom „EU-Gipfel“ oder dem „1,8 Billionen Finanzpaket“. Vom Einstieg in die Schulden-Union ist in den Medien nicht die Rede, dabei ist genau das passiert.

Wer hat gewonnen?

Am Ende waren es vor allem die Niederlande und Österreich, die hart gegen gemeinsame Schulden gekämpft haben. Sie haben verloren, nun gibt es gemeinsame EU-Schulden. Und zwar in Höhe von 750 Milliarden Euro.

Zuerst hatten Merkel und Macron vereinbart, dass 500 der 750 Milliarden als nicht rückzahlbare Hilfen vergeben werden sollten. Damit ist die Frage, ob es gemeinsame Schulden der EU-Länder geben solle, geschickt aus dem Scheinwerferlicht genommen worden. Die gemeinsamen Schulden waren gesetzt, gestritten wurde nun nur noch darüber, wie hoch die nicht rückzahlbaren Hilfen sein sollen. Man hat sich am Ende so geeinigt: 390 Milliarden werden als nicht rückzahlbare Hilfen verteilt, 360 als Kredite weitergegeben. Aber dass die EU-Staaten damit trotzdem 750 Milliarden gemeinsame Schulden aufnehmen, das war schon beschlossen.

Nun stellte sich der Niederländische Ministerpräsident vor die Presse und verkauft das als Sieg. Zur Erinnerung: Er war komplett gegen gemeinsame Schulden und vor allem gegen nicht rückzahlbare Hilfsgelder. Und wenn das schon nicht vermeidbar sein würde, war er wenigstens für Reformen im Gegenzug gegen Hilfsgelder, was ebenfalls abgelehnt wurde. Der Niederländische Ministerpräsident (und mit ihm auch der österreichische Bundeskanzler) haben auf ganzer Linie verloren, sprechen aber von einem Sieg.

Merkel wird in den deutschen Medien als die große Verhandlungsführerin gepriesen, die sich über den Deal freut. Was in der Sache beschlossen wurde, war Merkel dabei offensichtlich egal, Hauptsache, es gibt einen Deal. Dass sie selbst vor kurzem noch gegen gemeinsame Schulden war und nun ihre eben noch unverrückbaren Positionen komplett über den Haufen geworfen hat – davon steht nichts in den „Qualitätsmedien“.

Wenn überhaupt einer gewonnen hat, das ist es der italienische Ministerpräsident. Der wollte gemeinsame Schulden (also den Tabubruch in der EU) und er wollte 500 Milliarden als nicht rückzahlbare Hilfen. Ob es 500 oder 390 Milliarden geworden sind, kann ihm egal sein: Der Tabubruch hat stattgefunden und damit dürften in den nächsten Jahren bei Bedarf weitere gemeinsame Schulden beschlossen werden.

Offiziell sind die gemeinsamen Schulden natürlich eine einmalige Ausnahme, die 2023 auslaufen soll. Aber solche einmaligen Ausnahmen kennen wir schon. Oder wie war das mit dem einmaligen Programm der EZB zum Kauf von Staatsanleihen? Das wurde auch eine einmalige Maßnahme angepriesen, die nur wegen der Griechenlandkrise nötig war. Und diese einmalige Ausnahme wurde immer wieder verlängert und um neue „Ausnahmen“ erweitert und läuft bis heute, wie ich Ende Juni ausführlich aufgezeigt habe.

Der Erfolg: Gemeinsame Schulden

Den Lesern in den Ländern, in denen gemeinsame Schulden unpopulär sind, wurde Sand in die Augen gestreut. Die Medien haben in den letzten Tagen und Wochen immer wieder über die 500 Milliarden nicht rückzahlbaren Hilfen berichtet und darüber, ob und an welche Bedingungen sie geknüpft werden sollen. Von den 250 Milliarden Euro zusätzlicher gemeinsamer Schulden, war nur am Rande die Rede. Frei nach dem Motto, „das müssen die Empfängerländer ja zurückzahlen“, wurde nur über den Teil der gemeinsamen Schulden berichtet, die als nicht rückzahlbare Hilfen verteilt werden sollen.

Dass sich nun das Verhältnis ein wenig verschoben hat, ändert nichts daran, dass die EU nun 750 Milliarden gemeinsame Schulden aufgenommen hat.

Was passiert denn, wenn zum Beispiel Italien pleite geht und die Milliarden, die es von der EU als Kredite bekommen hat, nicht zurückzahlen kann? Ganz einfach: Dann haften alle anderen gemeinsam dafür.

Ich will jetzt gar nicht bewerten, ob das gut oder schlecht ist. Ich frage nur, warum den deutschen Lesern das nicht so deutlich gesagt wird.

Der EU-Haushalt beläuft sich auf über 150 Milliarden jährlich. Bisher hat Deutschland 25 Milliarden eingezahlt, jetzt wurde gefordert, Deutschland solle 13 Milliarden mehr pro Jahr einzahlen. Der deutsche Anteil beläuft sich also in jedem Fall auf grob 20 bis 30 Prozent des EU-Haushaltes. Wenn Deutschland für die gemeinsamen Schulden der EU nach dem gleichen Schlüssel haften soll, dann geht Deutschland mit 150 bis 225 Milliarden ins Risiko. Das steht nur nirgends in den Medienberichten.

Und das wird als Erfolg verkauft, wie zum Beispiel diese Spiegel-Überschrift zeigt: „Reaktionen auf EU-Gipfel – „Historischer Tag für Europa“„. Und in dem Artikel werden dann massenhaft Politiker zitiert, die alle furchtbar glücklich mit dem Ergebnis sind.

Nochmal: Wenn man gemeinsame Schulden für nötig hält, dann soll man den Menschen erklären, warum es nötig ist und sie davon überzeugen. Aber das hat nicht stattgefunden. Was tatsächlich beschlossen wurde, also gemeinsame Haftung für Schulden von EU-Ländern, wird in all den Erfolgsmeldungen über den EU-Gipfel nicht thematisiert.

Gemeinsame Werte?

In den Medien war in den letzten Monaten immer wieder die Rede davon, dass bestimmte Länder (vor allem Polen und Ungarn) gegen die gemeinsamen Werte der EU verstoßen und Rechtsstaatlichkeit und Demokratie einschränken. Auch das will ich nicht bewerten, aber wenn die EU es mit ihren gemeinsamen Werten ernst meinen würde, müsste sie dagegen vorgehen.

Das tut sie aber nicht.

Um überhaupt eine Einigung zu erzielen, wurde ein fauler Kompromiss geschlossen, der keine Folgen haben wird und von Polen und Ungarn offen als Sieg gefeiert wird. Auch hier war es offensichtlich wichtiger, einen Deal zu erreichen, als die angeblichen Werte durchzusetzen.

Rückwärts gewandter Deal

Traditionell ist der größte Posten im EU-Haushalt die Agrarförderung, die in erster Linie den Lebensmittelkonzernen zu Gute kommt. Das mag richtig oder falsch sein, eines ist aber sicher nicht: Es ist nicht der Zukunft zugewandt. Die Zukunft liegt in der Digitalisierung, ob es einem gefällt oder nicht. Das konnte man sogar in einem Spiegel-Artikel lesen:

„Auf der Strecke bleiben zunächst viele zukunftsgerichtete Programme. Denn um den Forderungen der sogenannten sparsamen Länder gerecht zu werden, mussten sowohl der Sieben-Jahres-Haushalt wie auch der Wiederaufbaufonds ausgerechnet bei den Programmen abgeschmolzen werden, die Zukunftsinvestitionen versprochen hätten, etwa das „Horizon“-Programm zur Förderung von Wissenschaft und Forschung. (…) Der SPD-Europaabgeordnete Tiemo Wölken etwa bemängelte, dass die Agrarförderung im Haushalt mit 58 Milliarden Euro pro Jahr weiterhin der größte Posten sei – während nur 6,7 Milliarden Euro für die Digitalisierung vorgesehen seien.“

Auch hier ging es also ganz offensichtlich nicht um die Sache, es ging wieder nur darum, einen Deal zu finden, auch wenn es ein miserabler Deal ist. Das zeigte schon die Überschrift des zitierten Spiegel-Artikels: „EU-Corona-Gipfel – Hauptsache ein Deal“. Trotzdem war auch dieser Artikel trotz der zitierten Kritik überwiegend positiv, denn – so der O-Ton – das wichtigste war es, einen Deal zu machen.

Gewinner und Verlierer

Gewonnen haben bei den Deal Polen und Ungarn, weil sie nicht befürchten müssen, dass der ewigen Kritik aus Brüssel auch mal Taten folgen können.

Gewonnen hat Italien, das den Tabubruch der gemeinsamen Schulden durchgesetzt hat.

Gewonnen hat die Agrarlobby, deren Subventionen praktisch unangetastet geblieben sind.

Verloren haben alle, die gegen gemeinsame EU-Schulden sind und alle, die sich von der EU endlich Fortschritte bei Zukunftsinvestitionen erhofft haben.

Aber: Hauptsache ein Deal!

Autor: Anti-Spiegel

Thomas Röper, geboren 1971, hat als Experte für Osteuropa in Finanzdienstleistungsunternehmen in Osteuropa und Russland Vorstands- und Aufsichtsratspositionen bekleidet. Heute lebt er in seiner Wahlheimat St. Petersburg. Er lebt über 15 Jahre in Russland und spricht fließend Russisch. Die Schwerpunkte seiner medienkritischen Arbeit sind das (mediale) Russlandbild in Deutschland, Kritik an der Berichterstattung westlicher Medien im Allgemeinen und die Themen (Geo-)Politik und Wirtschaft.

6 Antworten

  1. Interessanterweise wird dies sogar in zwei DLF-Interviews mit mit zwei Politikern entgegengesetzter Richtung (CSU/Grüne) deutlich: Ferber: Finanzpaket wird langfristig katastrophale Auswirkungen haben und Giegold: Staatschefs haben Zukunftsprojekte zusammengestrichen. Dazu kommt noch die Unklarheit über die Artikel-sieben-Verfahren, der genauer Wortlaut (Beendigung/Konstruktive Mitarbeit) noch nicht bekannt ist. Da wird das EP wohl noch eine weitere Beratungsrunde erzwingen!

  2. Also: jain 😀

    Fakt ist, dass die EZB bereits eh bald 2,5 Billionen an Staatsanleihen aufgekauft hat. Die stehen in der Bilanz der EZB und werden dort wohl auch verrotten. Und das ist nur der Wahnsinn, der sich nach der Finanzkrise aufgehäuft hat.
    Weiterhin halten die bald viele 100 Milliarden an Unternehmensanleihen.
    Das System ist schlichtweg auf einem unumkehrbaren Irrweg. Wir können jetzt das Modell Japan fahren, aber rauskommen tun wir da sicher nimmer.
    Was spielt es da am Ende für eine Rolle, ob man die Schulden als gemeinsam definiert oder nicht? Deutschland und übrigens auch alle „sparsamen“ Länder im Verhandlungsblock kriegen Negativzinsen auf ihr Staatsanleihen. Es treibt in sofern den Schuldenberg, aber nicht die Zinslast und ist somit keine reale Belastung für die Haushalte.

    Ich will damit übrigens nicht sagen, dass das toll ist, aber der Wahnsinn ist bereits auch ohne diese weiteren 750 Milliarden EUR längst weit über den Punkt hinaus, wo das noch einen relevanten Unterschied machen würde.
    Der EUR ist als kaputtes Konstrukt erschaffen worden und wie kaputt es ist sehen wir nun mit jedem Jahr und mit jeder weiteren Krise obendrauf nur umso deutlicher.

  3. Wenn die „Größten Ökonomen aller Zeiten“ den Rest Europas zu „Idioten“ erklären, weil die da doch zu dämlich sind, ohne Schulden auszukommen, obwohl man wissen müßte, daß von deren Schulden unserer „Größe“ herrührt – kommt derartiges heraus.
    Und die Griechen, die da über Jahrzehnte unsere Billiglöhne bezahlt haben – „kreditfinanziert“ – gehörten eigentlich schon lange in den Schuldturm

  4. Der Postillion hat es gut zusammengefasst:
    „EU beschließt irgendwas Wichtiges mit voll vielen Milliarden, was keiner kapiert“

    Schön das wenigstens einer verscuht ein bisschen Licht ins Dunkel zu bringen.

    Zu Italien:
    Die haben doch absichtlich besonders viele Corona-Tote gezählt und das seit vielen Jahren regelmäßig zusammenbrechende Gesundheitssystem als Corona-Folge verkauft.
    Es ging Italien von Anfang an darum später möglichst viel „Hilfen“ zu kassieren, das konnte man in diversen seriösen Medien nachlesen.

    Welche Bedingungen nun an diese Hilfen geknüpft sind, wer wieviel davon erhält und wie die Details aussehen…ich wills eigentlich lieber nicht wissen. Ich würde aber mein Jahresgehalt darauf verwetten das es unfair ist und zum Betrug einläd. Und das Deutschland am Ende wieder alles für alle bezahlt.

    Dieser „EU-Gipfel“ wurde übrigens von keinem Wähler gewählt, er hat eigentlich keine demokratische Legitimation. Überhaupt wurden wir seit ich denken kann nicht an Entscheidungen die uns direkt betreffen beteiligt. Demokratie ist etwas anderes!

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